Ein Jahr beim Rettungsdienst
Der Alarm geht! Ich seufze, scherze mit den Kollegen und verlasse den Aufenthaltsraum der Dienststelle und mache mich auf dem Weg zum Rettungswagen. Das Anziehen der roten Uniform ist schon Routine. Wir werden zu Notfällen gerufen, wenn Menschen in Panik geraten, wenn Menschen verunglücken und wenn Menschen sterben. Wenn andere in Not sind, sollen wir helfen. Das ist unser Job.
Ich habe ein Jahr lang beim Rettungsdienst des Roten Kreuzes in Retz ein freiwilliges, soziales Jahr gemacht. Ich engagiere mich immer noch freiwillig beim Roten Kreuz, und mache wöchentlich Dienste.
Vor einem Jahr, ich war 18 Jahren alt und hatte gerade die Schule abgeschlossen, erlebte ich meine erste Reanimation. Das ist nicht ungewöhnlich für einen Rettungssanitäter; darauf wird man vorbereitet. Leben retten – darum geht‘s. Aber in diesem Moment, sind mir viele Gedanken durch den Kopf gegangen.
Ein paar Wochen später lautet ein anderer Einsatz: „Eine Woche nicht gesehen, viele Pakete vor der Tür, vermutlich verstorben.“ Als wir die Tür mit Hilfe der Feuerwehr öffnen, fanden wir ihn, liegend auf dem Sofa.
Dies ist leider nicht ungewöhnlich. Seltsam ist nur: wir leben doch in einer Gesellschaft, die mehr denn je vernetzt ist: Handys, Internet, soziale Medien, Chats – wir haben doch alles?
Anscheinend nicht.
Aufgrund der vielen Menschen, die auf diese Weise sterben, entstand in Japan das Wort Kodokushi (allein sterben). Und dies sind nicht nur die Älteren. Wissenschaftler beschreiben eine “Pandemie der Einsamkeit”, die seit Covid 19 zugenommen hat. Laut einer Studie berichteten 71 Prozent der intensiven Nutzer sozialer Medien über Gefühle der Einsamkeit.
Patienten wollen manchmal nur mit jemanden reden.
Was läuft hier falsch? Sind wir nicht eine der ersten Generationen, die „alles zur Verfügung hat“?
Das hat mich schockiert. Ich hatte vorher nicht wirklich über Einsamkeit nachgedacht. Im Bruderhof, der christlichen Gemeinschaft, in der ich aufwuchs, waren immer Freunde und Menschen in der Nähe. Diese Einsamkeit zu sehen tat mir von Herzen weh. Warum muss das so sein? Gibt es überhaupt eine gesellschaftliche Lösung?
Der Theologe Carl Trueman beschreibt in seinem Buch „Der Siegeszug des modernen Selbst“ zwei Weltbilder. Er schreibt: Man kann die Welt „mit einer Ordnung und einem Sinn versehen. Daher steht der Mensch vor der Aufgabe, diesen Sinn zu entdecken und sich auf ihn einzustellen.” Zu viele Menschen sehen die Welt jedoch als „Rohmaterial an, aus dem sich das Individuum Sinn und Bedeutung erschaffen kann“.
Die zweite Weltsicht bringt den Individualismus, wie wir ihn nun kennen. Der Mensch denkt nur an sich selbst, und was ihn befriedigt. Was befriedigt mich jetzt und hier? Um dies zu beantworten greifen wir alle oft zuerst nach dem Handy.
Viele denken, dass ein Chat oder Post Gemeinsamkeit schafft. Aber dort werden alle bewertet, und wer keine Likes bekommt, wird fallen gelassen. „Bin ich schlechter als die anderen?“ - so entsteht Einsamkeit.
Aber nicht nur online treiben wir einander in die Einsamkeit. Wie oft schaue ich auf mein Handy, wenn jemand vor mir steht und mit mir redet? Wie oft habe ich mich in der digitalen Welt Kilometer weit entfernt von der Person, die neben mir steht? So lasse ich den Menschen neben mir allein, weil mich mein digitaler Schnuller mehr reizt.
So lassen wir jeden Tag Menschen neben uns alleine. Ich denke zurück an den Mann, der einsam und alleine verstorben ist. Gemeinschaft ist nicht nur für Dich da, wenn Du sie brauchst, sondern auch für andere, wenn sie Dich brauchen.
C.S. Lewis schreibt:
„Wir werden hilflos geboren. Sobald wir bei vollem Bewusstsein sind, entdecken wir die Einsamkeit. Wir brauchen andere, physisch, emotional und intellektuell. Wir brauchen sie, wenn wir etwas wissen wollen, sogar uns selbst.“ (C. S. Lewis (1971). “The Four Loves”, p.14, Houghton Mifflin Harcourt)
Und das ist eine tragfähige Antwort. Nur wenn wir zusammen sind, können wir die Einsamkeit besiegen. Aber nicht nur verbunden durch Kabel und Neutronen, nein! Echte Gemeinschaft.
Buch: Der Siegeszug Des Modernen Selbst, Carl Trueman
Mir hat mal ein Bauer, der dem Altenteil entgegenging und nun mit seiner Frau in eine kleinere Wohnung (auf dem Hof) gezogen ist: "40 Jahre Großfamilie reicht mir auch." Für meine Eltern, meine Großeltern, besonders den weniger bemittelten, war es keine Wahl sondern eine Notwendigkeit eng beieinander zu wohnen. In den Häusern wurde im Winter nur ein Raum beheizt, das saßen alle zusammen, die nicht frieren wollten. Will sagen. Erst in unsere Zeit haben wir überhaupt erst die Möglichkeit uns zu entscheiden, wollen wir alleine oder in Gemeinschaft leben. Die Konsequenzen einer nachhaltigen Individualisierung hat die Gesellschaft bisher nicht gekannt. Sie treten jetzt, wie Du beobachtet hast, zu Tage und Menschen müssen nach Lösungen suchen. Den Weg zurück zur patriachalen Großfamilie werden die wenigsten (ohne Not) gehen wollen.